Die Mönche von St. Salomé und die zwei Hunde

In der Umgebung des Klosters lebte einmal ganz für sich eine arme Witwe am Rande des Waldes in einer Hütte. In einer stürmischen und regnerischen Nacht fand ein Reisender bei ihr Zuflucht, der im Dunkeln vom Weg abgekommen war. Zum Dank machte er ihr am Morgen ein ungewöhnliches Geschenk: Zwei Welpen, die seine Wachhündin auf der langen Reise zur Welt gebracht hatte, und die ihm seither nur zur Last fielen. Die Frau zögerte, denn sie war zwar nicht am Verhungern, und ihre Mittel und ihre Zeit würden wohl ausreichen, um eines der Tiere aufzuziehen – aber deren zwei? Der Mann jedoch, schon halb zur Tür hinaus, ließ nicht mit sich verhandeln: »Wenn du nur ein Junges willst, dann ertränke doch das andere – oder meinetwegen beide. Mir ist es gleich.«

Da entschloss sich die Frau, es mit den beiden Welpen zu versuchen. Denn weder konnte sie gut ahnen, welcher von beiden kräftiger, artiger oder nützlicher sein würde, noch brachte sie es so leicht übers Herz, überhaupt eines der Tiere zu töten. Und einfach fortjagen, um woanders sein Glück zu finden, ließ sich weder der eine, noch der andere.

Als die zwei Hunde heranwuchsen, stellte sich heraus, dass sie sich durchaus voneinander unterschieden. Der eine hatte ein schwarzes Fell, war sanft und folgsam, aber dabei auch ein wenig träge. Der andere war bunt gescheckt, launisch, hatte scharfe Sinne und war ständig in Bewegung. Ebenso zeigte sich, was die Witwe befürchtet hatte: Je größer die Hunde wurden, desto mehr mangelte es ihnen an Futter und Fürsorge, denn die Frau musste viel arbeiten und war dennoch arm. Immer wieder bot sie daher den Mönchen, Nachbarn und fahrenden Kaufleuten eines der Tiere an, doch vergebens. Einen wohlgenährten, gut erzogenen Hund hätte sie wohl sogar zu Geld machen können, aber an unnützen Essern herrschte im ganzen Land kein Mangel.

Einmal gab ihr der Schäfer des Klosters zumindest einen guten Rat. Er zeigte auf den schwarzen Hund und sagte: »Wenn du den ordentlich heraus fütterst und mit ihm jeden Tag übst so lange du nur kannst, dann kann das ein prächtiger Hütehund werden!« Die Frau bedankte sich, und sah auch wohl, dass der Schäfer recht hatte. Und doch brachte sie es nicht über sich, den anderen Hund aufzugeben, um aus diesem etwas zu machen. Ein anderes mal machte der Wildhüter des Abtes einen ganz ähnlichen Vorschlag. Er spielte ein wenig mit dem scheckigen Hund und meinte: »Wenn du den ein Jahr lang ordentlich erziehst und ihm kräftig zu fressen gibst, dann wird er der feinste Jagdhund im ganzen Tal!« Und auch seinen Ratschlag nahm die Frau zwar entgegen, konnte sich aber von dem einen Hund genauso wenig trennen wie von dem anderen. Im übrigen waren auch die zwei Hunde unzertrennlich, und unerzogen wie sie waren, sah man sie oft gemeinsam die Gegend durchstreifen.

Wenige Jahre später waren die beiden Hunde ausgewachsen, beide eher drahtig als wohlgenährt und beide recht freundlich, auch wenn der eine noch immer ein wenig langsam, der andere ein wenig verspielt war. Da rief man eines Tages ganz aufgeregt die Witwe zum Klosterteich. Ein Kind aus dem Dorf war unbemerkt hineingefallen und wäre fast ertrunken, doch der scheckige Hund hatte es gerade noch entdeckt, war hineingesprungen und hatte es so lange über Wasser gehalten, bis der schwarze Hund endlich mit seinem ausdauernden Bellen Hilfe herbeigeholt hatte. Von diesem Tag an gab niemand mehr der Frau Ratschläge, was ihre Hunde anging.

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Die Mönche von St. Salomé und die Fährleute

Im Besitz des Klosters von St. Salomé war auch eine Fährstation, wo Reisenden den Fluss mit einem kleinen Boot überqueren konnten. Dort taten zwei Fährleute ihre Arbeit, die oft anstrengend war, aber genug zum Leben einbrachte. Die meisten Leute nahmen ihre Dienste gern in Anspruch, kümmerten sich aber nicht weiter um Freude oder Kummer der Bootsführer.

Mit der Zeit wurde einer der beiden Fährmänner immer unleidlicher. Er war nicht mehr pünktlich am Anleger, brauchte ewig für eine Überfahrt und ließ das Boot in den Stromschnellen manchmal fast kentern. Einige Male kam er betrunken zu seiner Schicht, so dass die Leute Todesangst hatten, sich von ihm fahren zu lassen. Bei alledem beschimpfte er auch noch die Fahrgäste, knöpfte ihnen viel zu viel Geld ab und drohte ihnen mit der Ruderstange, wenn sie widersprachen. Manche Reisende suchten sich nun andere Strecken, die nicht über die Fährstation führten, andere schimpften über den liederlichen Grobian und über die Abtei, die nicht einmal eine Fähre richtig betreiben könne. Über den Fährmann, der einfach seine Arbeit tat, sprach niemand.

Endlich jagte der Abt den untragbaren Schiffer davon und stelle einen neuen ein. Dieser war das gerade Gegenteil des vorigen und versuchte, es allen recht zu machen, wo es nur ging. Dem einen erließ großzügig den Fahrpreis, dem anderen erlaubte er viel mehr Zuladung als eigentlich erlaubt war, einem dritten zu Gefallen änderte er die Anlegepunkte ganz nach seinem Wunsch. Zuverlässig war der Fährbetrieb nun nicht mehr, und auch das Geld für Reparaturen fehlte bald, so dass der fahrlässige Bootsführer sich eines Nachts heimlich davonmachte. Wieder hatten manche Reisende sich schon neue Strecken gesucht, andere stritten miteinander hin und her, ob der Mann seine Sache nicht doch gut gemacht hätte und völlig zu unrecht hatte gehen müssen. Über den Fährmann, der einfach seine Arbeit tat, sprach niemand.

Noch einmal wurde ein neuer Schiffer angeworben, doch dieser ging von Anfang an selbst streng ins Gericht mit dem Fährbetrieb. Die Boote seien zu alt und zu unhandlich, das Kloster müsste den Dienstplan ganz anders regeln, und überhaupt wäre es doch viel besser, eine Brücke bauen zu lassen. Bald setzte der neue Fährmann überhaupt niemanden mehr über den Fluss, sondern belehrte nur noch die Reisenden und stritt mit den Mönchen darüber, wie man die Boote umbauen sollte. Auch einige der letzten regelmäßigen Passagiere gingen nun lieber weite Umwege um die Fährstation herum, doch manche stimmten dem neuen Fährmann auch geflissentlich bei und lobten ihn, dass da endlich einer sei, der sich Gedanken mache und nicht dumm vor sich hin schufte. Über den Fährmann, der einfach seine Arbeit tat, sprach niemand.

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Die Mönche von St. Salomé und der Trost des Gebets

Einmal, als besonders harte Zeiten das Land heimgesucht hatten und die Menschen viel Kummer leiden mussten, fanden sich drei Leute in der Abtei ein. Sie waren früher nie übermäßig fromm gewesen, doch hatten sie gehört, dass ein fester Glaube und die Einkehr im Gebet oft Wunder wirken und reichen Trost zu spenden vermögen. Ein Bruder nahm sich der Pilger an – es waren ein Gaukler, eine Köchin und ein Barbier – hörte sich ihre Sorgen an und versprach, sie in erbaulichen Übungen anzuleiten, um ihnen neuen Lebensmut zu geben.

Früh am Morgen begannen die drei unter der Aufsicht des Mönches mit dem Studium der Schrift und lassen abwechselnd Verse aus dem Buch Ijob. Wohl fanden sie ihre eigene Lage darin recht gut wieder, doch so recht aufrichten konnte sie das nicht. Am Nachmittag ließ der Bruder sie die Psalmen beten, besonders jene, die aus der Tiefe zu Gott schreien und klagen. Auch diese Gebete sprachen den drei durchaus aus dem Herzen, aber ihr Schicksal erschien ihnen dennoch kaum leichter. Am Abend schließlich betrachteten sie mit ihrem Lehrmeister den Kreuzweg und machten sich alles bewusst, was Christus um der Menschen willen auf sich genommen hatte. Doch auch hier spürten sie zwar, wie das Leiden des Herrn sie berührte, jedoch gab es ihnen nur wenig Frieden.

Am nächsten Tag ließen sie ihre Gastgeber wissen, dass es wohl keinen Sinn habe – der Glaube und das Gebet konnten ihnen nicht helfen. Doch bevor ihr erfolgloser Lehrmeister sie verabschiedete, richtete er noch eine Bitte an sie: „Auch wenn ich euch nicht von Nutzen sein konnte, so seid doch bitte so gut, mir einen kleinen Dienst zu erweisen. Seit Jahren bin ich in immer schlechterer gesundheitlicher Verfassung, und da ihr euch doch mit den Dingen des Leibes auskennt, mögt ihr mir vielleicht euren Rat geben. Gerne beherbergen und verköstigen wir euch dafür auch eine weitere Nacht.“

Die Pilger, die zwar enttäuscht, aber nicht undankbar waren und dem Mönch gerne zumindest seine Mühe vergelten wollten, willigten ein. Der Gaukler zeigte ihm eine Reihe von Leibesübungen, um seine Statur zu kräftigen, die Köchin verordnete ihm einen genauen Speiseplan mit ausschließlich gesunder Nahrung und der Barbier überließ ihm einige Seifen und Salben, um Haut und Haare zu pflegen.

Als sie am nächsten Tag endgültig aufbrechen wollten, dankte ihnen der Bruder für ihre Bemühungen, fügte jedoch seufzend hinzu: „Nur leider hat es alles nichts genützt. Meine Muskeln sind immer noch schlaff, mein Bauch zu fett und Haut und Haare schon wieder schmutzig und spröde.“ Da schüttelten die drei den Kopf und erklärten ihm, einer den anderen unterbrechend, dass es so schnell ja nun auch nicht gehe. Beharrlich müsse er seinen Körper üben, Tag für Tag sich gesund ernähren und regelmäßig Seifen und Salben verwenden. Mit einem Mal sei es da nicht getan, sondern die Hilfsmittel wirkten nur, wenn sie ein fester Teil seines Lebens würden. Da nickte der Mönch bedächtig und sagte, was die drei wohl schon selbst ahnten: „Ebenso ist es mit dem Gebet.“

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Die Ausgetretenen und wir

„Deutschland 3000“ ist ein Video-Format von FUNK, einem „Content-Netzwerk von ARD und ZDF“, das mit seinen Beiträgen verschiedene Social-Media-Plattformen bespielt und gesellschaftlich relevante Themen für ein junges Publikum aufbereiten will. Für das Video Missbrauch, Abtreibung, Homosexualität: Pfarrer reagieren auf Austrittsgründe aus Kirche habe ich mich eine gute Stunde lang mit einer jungen Frau unterhalten, die früher einmal Ministrantin war.

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Die Mönche von St. Salomé und die Bauleute

Einmal erreichte ein reisender Philosoph aus einem weit entfernten Land die Abtei St. Salomé. Er hatte seine Heimat verlassen, um in aller Welt die Sitten und Gebräuche fremder Länder und Völker zu studieren. So gewährte man ihm gerne, sich eine Weile lang im Kloster aufzuhalten. Besonders bewunderte der Philosoph die große Stiftskirche, an der seit Jahrhunderten langsam aber beständig gebaut wurde. Denn in seiner Heimat waren den Menschen zwar hoch gelehrt, machten sich aber nicht viel aus großen Bauten und lebten lieber in Hütten und Zelten.

Gerade waren die Bauleute voll Freude und Ausdauer dabei, einen schlanken Mittelturm zu errichten, der das bisherige Dach um viele Schritt überragen sollte. Da erkundigte sich der Fremde neugierig bei einem von ihnen: »Das ist sicher eine sehr dringende und notwendige Aufgabe, die ihr da gemeinsam erfüllt, mein Herr, so munter und eifrig wie hier alle bei der Arbeit sind. Warum braucht denn der Tempel so dringend diesen Turm?«

»Nun ja, unabdingbar ist so ein Turm eigentlich nicht«, antwortete der Baumeister, »Aber es geschieht eben zur höheren Ehre Gottes.«

Das sah der Philosoph freilich ein, wollte aber doch wissen: »Und wie groß muss der Tempel werden, damit er der Ehre eures Gottes genüge tut?«

Da dem Baumeister eine solche Überlegung dann doch zu verstiegen erschien, sagt er bloß freundlich: »Seit bald vierhundert Jahren wird die Kirche beständig erweitert, und ich selbst arbeite seit über zwanzig Jahren daran. Ich denke, es wird noch eine ganze Weile so weiter gehen.«

Tief beeindruckt wagte der Gast noch eine letzte Frage: »Dann tragt ihr, mein Herr, gewiss eine große Verantwortung dafür, dass dieser Bau wächst, und habt wohl manche seiner Teile ganz unnachahmlich gestaltet?«

»Aber nein«, erwiderte der Baumeister bescheiden, »Wo so viele fleißige Leute mithelfen, da kommt es auf einen einzelnen gar nicht so sehr an. Im übrigen steht auch der Bauplan schon seit langer Zeit weitgehend fest.«

Nach einigen Tagen verließ der Reisende schließlich die Abtei mit ihren fröhlichen Bauleuten und wandte sich neuen Ländern zu. Als er jedoch Jahre später auf dem Rückweg in seine Heimat wieder in St. Salomé vorbeikam, hatte sich Vieles verändert. Dem Kloster ging es schlecht. Man konnte nur noch geringe Mittel für den Kirchbau erübrigen, und so waren der Bauhütte auch nur noch wenige Arbeiter geblieben. Der stolze Turm hatte zur großen Enttäuschung aller wieder abgetragen werden müssen, da er nicht stabil war. Eine kaum mehr gebrauchte Pilgerkapelle rissen die Bauleute gerade ab, weil ihre Renovierung nicht mehr lohnte.

Auch dieses Mal blieb der Philosoph einige Tage lang und beobachtete das Geschehen. Endlich fragte er einen der wenigen verbliebenen Bauleute: »Verstehe ich recht, dass der jetzige Rückbau, so wie vorher der Aufbau, zur Ehre Gottes geschieht?«

Der Baumeister meinte erst, der Fremde mache sich über ihn lustig, erwiderte dann aber ernst: »Ach nein, lieber Gast. Allein die Notwendigkeit zwingt uns dazu. Wenn wir die Kirche nicht kleiner machen, können wir sie unmöglich instand halten, und dann würde bald alles zusammenbrechen.«

»Ihr wirkt aber so traurig dabei, mein Herr«, merkte der Fremde an, »Warum überlasst ihr es denn nicht anderen?«

»Wem den?« fragte der Baumeister, »Es ist ja kaum noch einer hier! Wenn nun auch ich noch wegginge, dann wäre wirklich bald alles verloren.«

Das verstand der Gast wohl und erkundigte sich zuletzt: »Und wie wird es dann weitergehen mit eurer Kirche?«

»Das wird euch keiner sagen können«, sagte der Baumeister, »Vierhundert Jahre haben wir diese Kirche aufgebaut, nun bauen wir sie zum ersten mal ab, und dafür gibt es keinen Plan.«

Der Philosoph bedankte sich, und ein paar Tage später zog er weiter. Als er nach langen Jahren der Reise endlich wieder in seiner Heimat angekommen war, fragten ihn seine Landsleute neugierig nach seinen Erlebnissen. Neben vielen anderen Dingen erzählte er auch von den Bauleuten der Abtei St. Salomé: »Hört, was für seltsame Menschen ich in jener Gegend getroffen habe. Sie sind tief traurig, wenn ihre Arbeit einem notwendigen Zweck dient, aber hoch erfreut, wenn sie etwas Überflüssiges tun. Es bedrückt sie, unverzichtbar zu sein, und es macht sie froh, sich entbehrlich zu fühlen. Abwechslung und Neues macht ihnen nur Sorge, dafür lieben sie es, Jahrhunderte lang immer das gleiche zu tun.«

Die Freunde und Nachbarn lauschten gebannt der Erzählung des Weltreisenden, doch mehr als einer fragte sich im Stillen: Ob es solche Menschen wirklich gibt? Bestimmt hat er das alles bloß erfunden.

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Die Mönche von St. Salomé und der Himmel

Eines Winters lag in der Abtei St. Salomé ein hochbetagter Bruder im Sterben. Er hatte bereits als Junge die Klosterschule besucht und war so begabt gewesen, dass die Mönche ihn sogar der angesehensten Universität des Landes empfehlen wollten. Dort wäre er sicher ein großer Gelehrter geworden, doch aus Liebe zu Gott und aus Verbundenheit mit dem Konvent war er im Kloster geblieben und später selbst ein Mönch geworden.

Über die Jahre hinweg hatte er der Gemeinschaft erst im Skriptorium gedient, dann als Lehrer der Klosterschule, eine Zeit lang sogar in Backstube, als dort dringend Hilfe gebraucht wurde, und auf seine alten Tage schließlich an der Pforte. In frohen Zeiten hatte er mit heiterem Eifer seinen Dienst getan, in schweren Zeiten mit grimmigem Langmut, und nie hatte er ernstlich an seinem Weg gezweifelt. Nun aber, am Ende seines Lebens, wurde er plötzlich unsicher:

»Zwar habe ich mein Leben Gott geschenkt und den Menschen gedient«, überlegte er, »Aber hätte ich nicht Größeres bewirken können als berühmter Gelehrter? Zwar habe ich im Kloster manches erlebt, aber hätte ich nicht viel mehr gelernt und erfahren in der Welt dort draußen, auf Reisen in ferne Länder? Zwar war ich meist glücklich, aber wäre ich nicht glücklicher gewesen mit einem eigenen Haus, einer Frau und Kindern?«

In dieser Nacht, seiner letzten Nacht auf Erden, hatte er einen Traum. Ein Engel empfing ihn an der Pforte eines vornehmen Stadthauses und bat ihn freundlich herein. Staunend sah der alte Mönch sich um und fragte seinen Gastgeber: »Wo sind wir hier? Wessen Haus ist das?«

»Erkennst du es nicht?«, fragte der Engel, »Es ist das Haus, das du nie gebaut hast, weil du dein Leben Gott geschenkt hast. Deshalb steht dieses prächtige Haus auch im Himmel und wird von einer Schar von Engeln bewohnt.«

»Im Himmel! Aber wie bin ich denn hierher gekommen?«, wollte er wissen.

»Ganz einfach. Auf den vielen Wegen, die du nicht gegangen bist, weil du dein Leben Gott geschenkt hast. Die Schiffe, die du nie bestiegen hast, und die Reisen, die du nie unternommen hast, haben dich bis in den Himmel geführt. Komm, ich zeige dir noch etwas!«

Der Engel führte ihn die Bibliothek des Hauses und zeigte auf einige Regale: »Das sind die Bücher, die du nie geschrieben hast, weil du dein Leben Gott geschenkt hast.« Schon zog der Engel einen Band aus dem Regal und blätterte ein wenig darin herum: »Hier, dieses Werk lese besonders gern: Es ist voll von Erkenntnissen eines großen Geistes und zugleich angenehm und gefällig zu lesen – und voller Humor!«

Der Träumer kam aus dem Staunen kaum heraus. Doch dann fiel ihm etwas ein und nach einigem Zögern wagte er endlich zu fragen: »Gibt es hier im Himmel etwa auch… sind hier denn auch die Kinder, die ich nie hatte? Und was ist mit deren Kindern, und…«

Da nahm sein Gastgeber ihn bei der Hand und drehte sich zu ihm. Das Gesicht des Engels erschien ihm auf einmal seltsam vertraut, nicht unähnlich seinen eigenen Zügen, als er noch jung war. Und freundlich lächelnd fragte der Engel ihn: »Was glaubst du eigentlich, wer all die Engel sind, die in diesem Haus wohnen?«

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Papa, glaubst du noch an Gott?

„Fakten und Berichte, das ist es, was uns nützt. Wir müssen sachlich bleiben, und aufregen soll sich dann die Presse“, so versucht Alexandre (Melvil Poupaud), zwei Mitstreiter von seiner Strategie zu überzeugen. Endlich soll der Erzbischof von Lyon (François Marthouret) die Verbrechen eines seiner Priester öffentlich zugeben und die Konsequenzen ziehen. Endlich soll das Leid Alexandres und so vieler anderer, die als Kinder von ihrem Pfarrer sexuell missbraucht wurden, wahrgenommen und gesühnt werden.

Auch die Weise, auf die François Ozon in „Grâce à Dieu“ die Geschichte des Vereins La Parole Libérée (dt. etwa: Das gebrochene Schweigen) auf die Leinwand bringt, folgt dieser Logik. Keine drastischen Bilder, keine erzählerische Dramatisierung, kein moralischer Kommentar. In beinahe dokumentarischer Nüchternheit begleitet der Film seine Protagonisten auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit, zeigt ihren Zweifel und ihre Entschlossenheit, ihre Auseinandersetzung mit Kirche, Anwälten und Presse, ihren Alltag, ihre Familienprobleme. Sparsame Rückblenden in die Kindheit der Missbrauchsopfer und ihre eigenen Erzählungen zeigen die schmerzhafte Wahrheit, ohne dabei emotional zu überfordern. Gerade indem Ozon auf die Wucht von Schockeffekten und melodramatischer Inszenierung verzichtet, kann er das Publikum auf dem ganzen schweren Weg mitnehmen.

Ähnlich wie Tom McCarthys „Spotlight“ (2015) macht auch „Grâce à Dieu“ diesen zurückhaltenden Realismus zu seiner größten Stärke. Und wie in Boston so wird auch in Lyon im Verlauf der Erzählung immer deutlicher, wie viele Menschen Jahre lang manches gewusst, vieles geahnt, und dabei alles verschwiegen haben. So kämpfen Alexandre, Gilles (Éric Caravaca), François (Denis Ménochet) und die anderen Leidtragenden nicht nur gegen einen Täter, der seine Schuld bis zum Realitätsverlust hin bagatellisiert, sondern auch gegen die Verantwortlichen, die ihn mutwillig decken, und eine Gesellschaft, die aus Unbehagen oder Gleichgültigkeit am liebsten wegsieht. So viel sie vereint, so unterschiedlich ist doch ausgerechnet ihr Verhältnis zu Gott und der Kirche. François ist überzeugter Atheist und sieht auch seinen Kirchenaustritt als wichtiges Statement. Alexandre dagegen legt Wert darauf: „Was wir tun, das tun wir für die Kirche, nicht gegen sie.“ Viele ihrer Mitstreiter wiederum müssen viel zu sehr damit ringen, ihr Leben in den Griff zu bekommen, um sich auch noch über Gott den Kopf zu zerbrechen.

All das bildet „Grâce à Dieu“ beeindruckend ab, und ist dabei gerade wegen seiner Aktualität kontrovers. Der Gerichtsprozess gegen den Priester, der wie alle Personen im Film mit seinem wahren Namen auftritt, ist zur Stunde noch nicht entschieden, ebenso das Verfahren gegen den Erzbischof von Lyon und eine Angestellte als Mitwisser. Greift der Film dem gerichtlichen Urteil vor, wenn er keinen Zweifel an der Schuld der Angeklagten lässt? Für eine unvoreingenommene juristische Bewertung des Falles kann dies tatsächlich ein Problem sein. Andererseits ist es wohl kaum die Schuld des Regisseurs, wenn zwanzig bis dreißig Jahre zurückliegende Verbrechen erst jetzt aufgearbeitet werden. Angesichts eines Kardinals, dem noch 2016 vor versammelter Presse herausrutschte, „grâce à dieu“ – Gott sei Dank – fielen die in Rede stehenden Taten wohl unter die Verjährung, kommt François Ozons Film sicher keinen Tag zu früh.

Gelobt sei Gott, Frankreich 2018
Originaltitel: Grâce à Dieu

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Warum nicht auch kirchlich?

Unter einer Hochzeitsmesse versteht die katholische Liturgie wohl meistens etwas anderes; trotzdem hat auch das Erzbistum Berlin zusammen mit der EKBO einen Stand auf der großen Austellung rund um Waren und Dienstleistungen zum Thema Heirat. Unter anderem für die Berliner Morgenpost ragt die Präsenz der Kirchen unter den anderen Ausstellern heraus.

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Alles Lüge!

Wahrheit oder Lüge – das ist auch für Kinder schon ein spannendes Thema. Gibt es die reine Wahrheit überhaupt? Darf man manchmal vielleicht sogar lügen? Die Kindersendung Kakadu vom Deutschlandfunk Kultur geht dem Thema nach und holt dazu auch geistlichen Rat ein.

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Glaube in der Galerie

Wenn Kirchengebäude regelmäßig für Kunstinstallationen und Ähnliches genutzt werden, dann darf in der Berliner Gemäldegalerie im Kulturforum am Potsdamer Platz auch einmal vom christlichen Glauben die Rede sein. In der Langen Nacht der Museen stelle ich zusammen mit Therese von Hesler für den Kaiser-Friedrich-Museums-Verein ein Gemälde aus dem 15. Jahrhundert vor: Die Messe des Heiligen Antonius von einem unbekannten norditalienischen Meister.

Das Werk war ursprünglich Teil eines Bilderzyklus mit Darstellungen aus dem Leben des heiligen Wüstenvaters Antonius. Der abgebildete Szene bezieht sich auf das legendäre Bekehrungserlebnis des Antonius: Als junger Mann habe er eine Heilige Messe besucht und fühlte sich dabei von den Worten des Evangeliums so getroffen, dass er alles verließ, um in der Wüste ein Leben der Einkehr und des Gebets zu führen.

Faszinierend an dem Gemälde sind die verschiedenen Ebenen von Ort und Zeit, die es bietet: Thema ist das späte 3. Jahrhundert in Nordägypten doch die Ansicht entspricht der Kathedrale von Sienna im 15. Jahrhundert – während der Betrachter in einem Berliner Museum des 21. Jahrhunderts steht. Die dargestellte Messfeier entspricht den Gewohnheiten der mittelalterlichen Klerikerliturgie allein mit Priester und Altardiener; zur Zeit des Antonius würde man eher eine kleine Gemeindeversammlung in einem Privathaushalt erwarten. Welcher Form ein heutiger Pfarrgottesdienst mehr entspricht, kann wiederum sehr verschieden ausfallen.

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