Vor langer Zeit besaß die Abtei von St. Salomé einen besonderen Schatz: Ein Ableger vom Baum des Lebens aus dem Paradies hatte im Klostergarten Wurzeln geschlagen und war seinerseits zu einem kleinen Baum gewachsen. Dank seiner wohlschmeckenden und bekömmlichen Früchte genossen die Mönche ausnahmslos ein langes Leben in Gesundheit und Herzensfreude.
Eines Jahres kam ein junger Prior neu ins Amt. Er galt als großer Scholastiker und Genie der systematischen Theologie. Dieser helle Kopf wollte dem Geheimnis der Früchte vom Baum des Lebens gerne auf den Grund gehen. Er besah sich die Früchte genau und stellte fest, dass jede von ihnen einen etwas anderen Farbton hatte. Von tiefem Weinrot über strahlendes Sonnengelb bis zu zartem Grün waren alle Schattierungen zu sehen. Messerscharf schloss der Prior, dass die besondere Kraft der Früchte nicht in der Schale liegen könne, die ja ganz verschieden ausfallen konnte, während die Früchte alle gleich heilsam waren. So wies er den Koch an, von nun an alle Früchte zu schälen, bevor sie auf den Tisch kämen.
Dann setzte er seine Studien fort. Da fiel ihm auf, dass auch die Form der einzelnen Früchte vom Baum des Lebens unterschiedlich war; da gab es kleine und große, runde, schmale und sogar solche mit kleinen Beulen. Es gab saftige und trockene Früchte, süße und herbe, weiche und feste. Die Tugend, die ihnen gemeinsam ist – so folgerte der Prior – kann also auch nicht im Fruchtfleisch liegen! Und so erhielt der Koch die Anweisung, ab sofort nur noch die kleinen harten Kerne aufzutischen, die in der Tat alle recht gleich aussahen.
Jahre vergingen, und immer weniger Brüder aßen noch vom Baum des Lebens, da kaum einer die Kerne besonders mochte. Auch die Gesundheit und Herzensfreude der Brüder war längst nicht mehr die alte. Auf seinem Sterbebett endlich, nach dem Genuss dreier voller Schalen Kerne vom Baum des Lebens erkannte der Prior seinen Fehler: »Ich habe alles, alles falsch gemacht«, klagte er verzweifelt. Neben dem Bett saß der alte Gärtner des Klosters. Er dachte eine Weile nach und meinte schließlich: »Aber nein, du hast nur die beiden Bäume des Paradieses verwechselt – den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens. Denn die Wahrheit ist sehr wohl eine einzige, aber das Leben, nun ja, das Leben ist eben vielgestaltig.«