„Fakten und Berichte, das ist es, was uns nützt. Wir müssen sachlich bleiben, und aufregen soll sich dann die Presse“, so versucht Alexandre (Melvil Poupaud), zwei Mitstreiter von seiner Strategie zu überzeugen. Endlich soll der Erzbischof von Lyon (François Marthouret) die Verbrechen eines seiner Priester öffentlich zugeben und die Konsequenzen ziehen. Endlich soll das Leid Alexandres und so vieler anderer, die als Kinder von ihrem Pfarrer sexuell missbraucht wurden, wahrgenommen und gesühnt werden.
Auch die Weise, auf die François Ozon in „Grâce à Dieu“ die Geschichte des Vereins La Parole Libérée (dt. etwa: Das gebrochene Schweigen) auf die Leinwand bringt, folgt dieser Logik. Keine drastischen Bilder, keine erzählerische Dramatisierung, kein moralischer Kommentar. In beinahe dokumentarischer Nüchternheit begleitet der Film seine Protagonisten auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit, zeigt ihren Zweifel und ihre Entschlossenheit, ihre Auseinandersetzung mit Kirche, Anwälten und Presse, ihren Alltag, ihre Familienprobleme. Sparsame Rückblenden in die Kindheit der Missbrauchsopfer und ihre eigenen Erzählungen zeigen die schmerzhafte Wahrheit, ohne dabei emotional zu überfordern. Gerade indem Ozon auf die Wucht von Schockeffekten und melodramatischer Inszenierung verzichtet, kann er das Publikum auf dem ganzen schweren Weg mitnehmen.
Ähnlich wie Tom McCarthys „Spotlight“ (2015) macht auch „Grâce à Dieu“ diesen zurückhaltenden Realismus zu seiner größten Stärke. Und wie in Boston so wird auch in Lyon im Verlauf der Erzählung immer deutlicher, wie viele Menschen Jahre lang manches gewusst, vieles geahnt, und dabei alles verschwiegen haben. So kämpfen Alexandre, Gilles (Éric Caravaca), François (Denis Ménochet) und die anderen Leidtragenden nicht nur gegen einen Täter, der seine Schuld bis zum Realitätsverlust hin bagatellisiert, sondern auch gegen die Verantwortlichen, die ihn mutwillig decken, und eine Gesellschaft, die aus Unbehagen oder Gleichgültigkeit am liebsten wegsieht. So viel sie vereint, so unterschiedlich ist doch ausgerechnet ihr Verhältnis zu Gott und der Kirche. François ist überzeugter Atheist und sieht auch seinen Kirchenaustritt als wichtiges Statement. Alexandre dagegen legt Wert darauf: „Was wir tun, das tun wir für die Kirche, nicht gegen sie.“ Viele ihrer Mitstreiter wiederum müssen viel zu sehr damit ringen, ihr Leben in den Griff zu bekommen, um sich auch noch über Gott den Kopf zu zerbrechen.
All das bildet „Grâce à Dieu“ beeindruckend ab, und ist dabei gerade wegen seiner Aktualität kontrovers. Der Gerichtsprozess gegen den Priester, der wie alle Personen im Film mit seinem wahren Namen auftritt, ist zur Stunde noch nicht entschieden, ebenso das Verfahren gegen den Erzbischof von Lyon und eine Angestellte als Mitwisser. Greift der Film dem gerichtlichen Urteil vor, wenn er keinen Zweifel an der Schuld der Angeklagten lässt? Für eine unvoreingenommene juristische Bewertung des Falles kann dies tatsächlich ein Problem sein. Andererseits ist es wohl kaum die Schuld des Regisseurs, wenn zwanzig bis dreißig Jahre zurückliegende Verbrechen erst jetzt aufgearbeitet werden. Angesichts eines Kardinals, dem noch 2016 vor versammelter Presse herausrutschte, „grâce à dieu“ – Gott sei Dank – fielen die in Rede stehenden Taten wohl unter die Verjährung, kommt François Ozons Film sicher keinen Tag zu früh.
Gelobt sei Gott, Frankreich 2018
Originaltitel: Grâce à Dieu