Eines Winters lag in der Abtei St. Salomé ein hochbetagter Bruder im Sterben. Er hatte bereits als Junge die Klosterschule besucht und war so begabt gewesen, dass die Mönche ihn sogar der angesehensten Universität des Landes empfehlen wollten. Dort wäre er sicher ein großer Gelehrter geworden, doch aus Liebe zu Gott und aus Verbundenheit mit dem Konvent war er im Kloster geblieben und später selbst ein Mönch geworden.
Über die Jahre hinweg hatte er der Gemeinschaft erst im Skriptorium gedient, dann als Lehrer der Klosterschule, eine Zeit lang sogar in Backstube, als dort dringend Hilfe gebraucht wurde, und auf seine alten Tage schließlich an der Pforte. In frohen Zeiten hatte er mit heiterem Eifer seinen Dienst getan, in schweren Zeiten mit grimmigem Langmut, und nie hatte er ernstlich an seinem Weg gezweifelt. Nun aber, am Ende seines Lebens, wurde er plötzlich unsicher:
»Zwar habe ich mein Leben Gott geschenkt und den Menschen gedient«, überlegte er, »Aber hätte ich nicht Größeres bewirken können als berühmter Gelehrter? Zwar habe ich im Kloster manches erlebt, aber hätte ich nicht viel mehr gelernt und erfahren in der Welt dort draußen, auf Reisen in ferne Länder? Zwar war ich meist glücklich, aber wäre ich nicht glücklicher gewesen mit einem eigenen Haus, einer Frau und Kindern?«
In dieser Nacht, seiner letzten Nacht auf Erden, hatte er einen Traum. Ein Engel empfing ihn an der Pforte eines vornehmen Stadthauses und bat ihn freundlich herein. Staunend sah der alte Mönch sich um und fragte seinen Gastgeber: »Wo sind wir hier? Wessen Haus ist das?«
»Erkennst du es nicht?«, fragte der Engel, »Es ist das Haus, das du nie gebaut hast, weil du dein Leben Gott geschenkt hast. Deshalb steht dieses prächtige Haus auch im Himmel und wird von einer Schar von Engeln bewohnt.«
»Im Himmel! Aber wie bin ich denn hierher gekommen?«, wollte er wissen.
»Ganz einfach. Auf den vielen Wegen, die du nicht gegangen bist, weil du dein Leben Gott geschenkt hast. Die Schiffe, die du nie bestiegen hast, und die Reisen, die du nie unternommen hast, haben dich bis in den Himmel geführt. Komm, ich zeige dir noch etwas!«
Der Engel führte ihn die Bibliothek des Hauses und zeigte auf einige Regale: »Das sind die Bücher, die du nie geschrieben hast, weil du dein Leben Gott geschenkt hast.« Schon zog der Engel einen Band aus dem Regal und blätterte ein wenig darin herum: »Hier, dieses Werk lese besonders gern: Es ist voll von Erkenntnissen eines großen Geistes und zugleich angenehm und gefällig zu lesen – und voller Humor!«
Der Träumer kam aus dem Staunen kaum heraus. Doch dann fiel ihm etwas ein und nach einigem Zögern wagte er endlich zu fragen: »Gibt es hier im Himmel etwa auch… sind hier denn auch die Kinder, die ich nie hatte? Und was ist mit deren Kindern, und…«
Da nahm sein Gastgeber ihn bei der Hand und drehte sich zu ihm. Das Gesicht des Engels erschien ihm auf einmal seltsam vertraut, nicht unähnlich seinen eigenen Zügen, als er noch jung war. Und freundlich lächelnd fragte der Engel ihn: »Was glaubst du eigentlich, wer all die Engel sind, die in diesem Haus wohnen?«