Einmal kam ein Pilger nach St. Salomé, der nach Richtung und Rat für sein Leben suchte. Er hatte gehört, an diesem heiligen Ort hätten schon viele Menschen die Stimme Gottes vernommen. Gespannt, ob Gott auch zu ihm sprechen würde, kehrte er als Gast im Kloster ein und ging gleich darauf zum Beten in die Kapelle. Eine ganze Stunde verbrachte er kniend im Gebet und lauschte immer wieder auf die Stimme Gottes, konnte aber nichts hören. Um die Wartezeit zu verkürzen, begann er schließlich, sich in der Kapelle umzusehen. Andächtig betrachtete er die ehrwürdigen Apostelstatuen und die prächtig illustrierten Szenen im aufgeschlagenen Evangeliar, die Epitaphe der verstorbenen Äbte und die Heiligenbilder in den bunten Glasfenstern. Und während er noch dachte, was für ein wunderschönes Gotteshaus dies sei, ärgerte er sich auch schon, dass er viel zu viel Zeit vertan hatte, ohne die Stimme Gottes zu hören.
Am nächsten Tag sagte er sich, er müsse wohl einen Fehler gemacht haben. Vielleicht würde er aber herausfinden, wie man die Stimme Gottes hört, wenn er die Mönche genau beobachtete? So gesellte er sich den Tag über mal zu diesen, mal zu jenen, die bei der Arbeit waren, nahm am Chorgebet teil, war Gast beim gemeinsamen Essen und saß nach den Mahlzeiten mit in der geselligen Runde im Klostergarten. Da fragte mal der eine Bruder die anderen um Rat, mal erzählte ein anderer eine Geschichte, und dann wieder stritten zwei sich heftig um eine gelehrte Frage. Auch die Meinung des Gastes war manches Mal gefragt, und er dachte bald, wie wohltuend doch so eine Gemeinschaft von Brüdern sei. Nur, dass von der Stimme Gottes gar nicht die Rede war, erschien ihm seltsam, zumal er selbst sein Anliegen beinahe vergessen hätte.
Am dritten Tag endlich beschloss der Pilger: »Das ganze Gerede war ja gut und schön, aber es ist ja kein Wunder, dass man dabei die Stimme Gottes gar nicht hört. Ich werde hinaus in den Wald gehen und in der Stille Gott suchen!« Es war ein frischer, sonniger Tag, und obwohl ihm noch die Enttäuschung der Vortage in den Knochen steckte, konnte der Mann bald nicht anders, als sich über die Schönheit der Natur zu freuen: Vom kleinen Schmetterling bis zum erhabenen Gebirgszug sah er so viel Wunderbares, dass er wieder ganz vergaß, auf die Stimme Gottes zu hören. Am Ende des Tages stellte er endlich ratlos fest, dass Gott wieder nicht zu ihm gesprochen hatte. Da beschloss er, am nächsten Tag wieder abzureisen.
In der Nacht hatte der Mann einen besonderen Traum: Durch die Gänge der Abtei wandernd, entdeckte er plötzlich eine Tür mit der Aufschrift »Gott«. Aufgeregt klopfte er an diese Tür, doch niemand antwortete. »Hallo! Aufmachen!«, rief er immer lauter und rüttelte an der verschlossenen Tür so stark er konnte. Da kam ein Mönch vorbei, an den sich der Pilger sofort wandte: »Ist Gott denn nicht da? Ich will mit ihm sprechen!«
»Was, schon wieder?« fragte der Mönch erstaunt.
»Was heißt da schon wieder? Kein einziges Mal hat Gott bisher mit mir gesprochen!«
»Und was war vor zwei Tagen in der Kapelle?«, fragte der der Mönch, »Da fragtest du Gott nach Richtung und Weisung in deinem Leben. Und Gott zeigte dir viele, viele heilige Männer und Frauen, an denen du dir ein Beispiel nehmen kannst. Gestern in der Gemeinschaft der Brüder dann fragtest du Gott, ob auch du vielleicht Mönch werden solltest. Da antwortete dir Gott, dass du wohl das Zeug dazu habest und hier sehr willkommen seist.«
»Und in der Stille des Waldes«, fuhr der Mann nun selbst fort und war dabei halb schon im Erwachen, »Da bat ich Gott um Trost in meiner Erschöpfung und Verzweiflung. Und Gott sprach mir neuen Mut zu, indem er mir all die herrlichen Dinge zeigte, die er für uns Menschen gemacht hat.«